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Das Problem der christlichen Prophetie

30Giorni, No 1 - 1999

Die Christenheit birgt in sich immer eine Struktur der Hoffnung

"Es ist immer dringender, dass die echten Strukturen der Verheissung and Erfüllung, die dem christlichen Glauben innewohnen, in einer verständlichen und lebbaren Weise aufgezeigt werden".

Gespräch mit Kardinal Joseph Ratzinger

von Niels Christian Hvidt


Wird das Wort "Prophetie" genannt, denken die meisten Theologen an die Propheten des Alten Testaments, an Johannes den Täufer oder an die prophetische Dimension des Magisteriums. Das Thema der Propheten im freien Raum der christlichen Kirche wird seltener berührt. Und doch ist die Geschichte der Kirche durchdrungen von prophetischen Gestalten - meistens später kanonisierte Heilige, die ihrer Zeit das Wort weitergegeben haben, das sie nicht als eigenes Wort, sondern als Wort Gottes wahrgenommen haben.
Was nun das Besondere an den Propheten ist, was sie von den Amtsträgern der institutionellen Kirche trennt und wie ihr geoffenbartes Wort sich zu dem in Christus ergangenen und durch die Apostel überlieferten Wort verhält, ist kaum systematisch reflektiert. Eine eigentliche Theologie des Prophetischen ist im Grunde genommen nie entwickelt worden. De facto existiert nur wenig Material über das Problem der christlichen Prophetie 1 .

Joseph Kardinal Ratzinger hat sich schon früh in seiner theologischen Tätigkeit ausführlich mit dem Begriff der Offenbarung beschäftigt. Seine Habilitationsschrift 2 über die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura 3 war zu dieser Zeit ein so mutiger Ansatz, dass die Abhandlung zuerst abgewiesen wurde 4. Damals wurde Offenbarung noch wesentlich als eine Sammlung göttlicher Sätze und primär als eine Frage der rationalen Erkenntnis betrachtet. Ratzinger fand in seiner Forschung jedoch, daß Offenbarung bei Bonaventura sich auf Gottes Handeln in der Geschichte bezog, in der sich die Wahrheit allmählich entfaltet. Offenbarung ist ein ständiges Anwachsen der Kirche in der Fülle des Logos 5.

Erst nach einer gründlichen Kürzung und einer weiteren Bearbeitung des Textes wurde die Arbeit angenommen. Seither vertritt Kardinal Ratzinger eine dynamische Auffassung von Offenbarung, wonach "das Wort" (Christus) immer größer ist als die Wörter und in den Wörtern nie ausgeschöpft.

Im Gegenteil: die Wörter nehmen an der Unerschöpflichkeit des Wortes teil, sie erschließen sich von ihm her und wachsen daher gleichsam mit dem Begegnen aller Generationen" 6 .

Eine theologische Bestimmung christlicher Prophetie kann nur im Rahmen eines solchen dynamischen Offenbarungsbegriffs stattfinden. Schon 1993 hat Kardinal Ratzinger festgestellt: "Eine gründliche Diskussion darüber, was die Kategorie des Prophetischen bedeutet und was sie nicht bedeutet, ist dringend zu wünschen" 7 . Daher war es naheliegend, den Kardinal um ein Gespräch über das Thema der christlichen Prophetie zu bitten. Am 16. März 1998 war er freundlicherweise zu diesem Gespräch bereit.

Niels Chrisitan Hvidt: Zur alttestamentlichen Offenbarungsgeschichte gehört wesentlich das Wort des Propheten, der die Geschichte Israels kritisch aufbricht und begleitet. Wie steht es Ihrer Ansicht nach mit der Prophetie im Leben der Kirche?

JOSEPH RATZINGER: Wir werden zuerst bei der alttestamentlichen Prophetie einen Augenblick verweilen. Es ist nützlich, präziser zu klären, was ein Prophet im Grunde ist, um Mißverständnisse auszuräumen. Ein Prophet ist nicht ein Wahrsager. Das wesentliche Element des Propheten ist nicht, daß er zukünftige Ereignisse sagt, sondern Prophet ist einer, der aus der Berührung mit Gott die Wahrheit sagt, und zwar die Wahrheit für heute, so daß sie freilich auch die Zukunft erhellt. Dabei geht es aber nicht um die Vorhersage von Details, sondern darum, die Wahrheit Gottes in dieser Stunde präsent zu machen und damit zugleich den Weg anzugeben. In Israel hat das insofern seine besondere Funktion, als der Glaube wesentlich Hoffnung ist auf den Kommenden hin, insofern ein Wort des Glaubens immer vor allen Dingen den Glauben in seiner Hoffnungsstruktur realisiert und die Hoffnung weiter voranführt und lebendig hält. Wichtig ist auch, daß der Prophet kein Apokalyptiker ist, obwohl er sich damit berühren kann, aber er beschreibt nicht wesentlich die letzten Dinge, sondern hilft, jetzt den Glauben als Hoffnung zu verstehen und zu leben.

Ähnlich muß der Prophet zwar immer das Wort Gottes als schneidendes Schwert in die Zeit hineinhalten, ist jedoch nicht wesentlich ein Kult- und Institutionskritiker. Er muß immer wieder gegen das Mißverständnis und den Mißbrauch des Wortes und der Institution den lebendigen Anspruch Gottes präsent halten, aber trotzdem wäre es falsch, das Alte Testament als eine reine gegenläufige Dialektik von Propheten und Gesetz zu konstruieren. Sofern und soweit beide von Gott kommen, haben sie beide prophetische Funktion. Das ist ein Punkt, der mir sehr wichtig ist, weil wir damit in das Neue Testament kommen. Mose selbst wird ja am Ende des Deuteronomium als Prophet bezeichnet und bezeichnet auch sich selber als solchen. Er kündigt Israel an: Einen Propheten wie mich wird Gott dir schicken. Da bleibt dann die Frage: Was heißt da "einen Propheten wie mich"? Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, dass - wiederum nach dem Deuteronomium - das Besondere bei Mose war, daß er mit Gott redete, wie ein Freund mit einem Freund redet 8. Darin würde ich den Kern oder die Wurzel des Prophetischen sehen. Es ist genau dieses "Auge in Auge mit Gott", dieses "Reden wie ein Freund mit einem Freund". Von dieser direkten Begegnung mit Gott her kann der Prophet dann in die Zeit hinein reden.

Wie verhält sich der Begriff der Prophetie zu Christus? Kann man Christus einen Propheten nennen?

RATZINGER: Die Kirchenväter haben die erwähnte Deuteronomiumsprophetie als eine Verheißung Christi begriffen, womit sie - denke ich - recht haben. Mose sagt "einen Propheten wie mich". Er hat Israel das Wort gegeben, das es zum Volk machte, er hat von seinem eigenen "Auge in Auge mit Gott" her diesen prophetischen Dienst geleistet, um die Menschen in die Begegnung mit Gott zu führen. Alle anderen Propheten dienen dieser Prophetie und müssen daher immer wieder das Gesetz aus Erstarrungen befreien und in einen lebendigen Weg umwandeln.

Der eigentliche, größere Mose ist dann eben Christus, der wirklich im "Auge in Auge mit Gott" lebt, weil er der Sohn ist. Insofern liegt in diesem Zusammenhang zwischen Deuteronomium und dem Christusereignis ein sehr wichtiger Punkt für das Verständnis der Einheit der Testamente. Christus ist der endgültige, wahre Mose, der wirklich im "Auge in Auge mit Gott" lebt als der Sohn und der nicht mehr bloß durch Wort und Vorschriften uns zu Gott hinführt, sondern uns mit sich trägt durch sein Leben und Leiden, durch die Inkarnation, die uns zum Leib Christi werden läßt. Das bedeutet, daß im neuen Testament in seiner Wurzel das Prophetische auch da ist. Wenn Christus deswegen der endgültige Prophet ist, weil er der Sohn ist, gehört von der Gemeinschaft mit dem Sohn her das Christologisch-Prophetische auch in das Neue Testament hinein.

Wie sieht das Ihrer Meinung nach nun im Neuen Testament konkret aus? Ist nicht mit dem Tod des letzten Apostels jedem prophetischen Anspruch eine endgültige Grenze gesetzt, ja dieser sogar in seiner Möglichkeit bestritten?

RATZINGER: Ja, es gibt die These, daß mit der Vollendung der Offenbarung das Ende der Prophetie gegeben sei. Diese These scheint mir ein doppeltes Mißverständnis einzuschließen. Erstens scheint dahinter die Meinung zu stehen, daß der Prophet, der ja wesentlich der Hoffnungsdimension zugeordnet ist, keine Funktion mehr habe, eben weil Christus nun da ist und die Hoffnung durch Gegenwart abgelöst ist. Das ist ein Irrtum, denn Christus ist gekommen im Fleisch und dann durch die Auferstehung "im Heiligen Geist". Diese neue Gegenwart Christi in der Geschichte, im Sakrament, im Wort, im Leben der Kirche, im Herzen der einzelnen Menschen ist Ausdruck und Aufbruch für das endgültige Kommen Christi, bei dem er "alles in allem" erfüllen wird 9. Daher geht also Christentum immer in einer inneren Bewegung auf den kommenden Herrn zu. Es geschieht zwar jetzt in einer anderen Weise, weil Christus schon da ist, dennoch trägt das Christentum ständig die Hoffnungsstruktur in sich. Eucharistie war ja immer verstanden als Hingehen zum kommenden Herrn. Sie wiederum verkörpert die ganze Kirche. Die Meinung, Christentum sei schon voll erfüllte Gegenwart und trage keine Hoffnungsstruktur mehr in sich, ist also das erste Mißverständnis, das abzuwehren ist. Das Neue Testament hat eine veränderte Hoffnungsstruktur, aber nach wie vor eine radikale Hoffnungsstruktur. Diener der Hoffnung zu sein, ist daher wesentlich für das Glauben im neuen Volk Gottes.

Das zweite Mißverständnis ist ein intellektualistisch verengtes Verständnis von Offenbarung, wo man Offenbarung als einen Schatz von mitgeteilten Erkenntnissen betrachtet, die nun fertig sind und an die nichts mehr angefügt werden kann. Das eigentliche Ereignis von Offenbarung ist aber, daß wir in dieses "Auge in Auge mit Gott" hineingeführt werden. Offenbarung ist wesentlich, daß Gott sich selber uns gibt, eine Geschichte mit uns macht und uns zusammenfügt und zusammenführt. Sie ist insofern ein Begegnungsereignis, das freilich auch eine Mitteilungsdimension hat und eine kognitive Struktur in sich trägt. Es hat also Implikationen für die Erkenntnis der Wahrheit der Offenbarung.

Wenn man das richtig faßt, heißt es, daß mit Christus die Offenbarung an ihrem Ziel ist, weil - wie Johannes vom Kreuz sehr schön sagt - wenn Gott sich selbst gesagt hat, nichts mehr darüber hinaus zu sagen ist. Man kann nicht über den Logos hinaus etwas sagen. Er ist ganz da, und etwas Größeres als sich selber kann Gott nicht geben und nicht sagen. Aber gerade diese Ganzheit der Selbstgabe Gottes - daß er als der Logos nun selbst im Fleisch da ist - bedeutet zugleich, daß wir immer weiter in dieses Geheimnis hineingehen müssen.

Insofern verbindet sich das mit der Hoffnungsstruktur. Das Angekommensein ist die Eröffnung einer immer tieferen Bekanntschaft und damit ein allmähliches Erkennen dessen, was in dem Logos geschenkt ist. Gerade damit ist in einer neuen Weise das Eingeführtwerden in alle Wahrheit eröffnet, wie Jesus bei Johannes sagt, wo er von dem Kommen des Heiligen Geistes redet 10. Ich glaube, daß die pneumatologische (Pneumatologie: Lehre vom Heiligen Geist; Anm. der Übersetzung) Christologie der Abschiedsreden Jesu 11 für unser Thema sehr wichtig ist, insofern Christus erklärt, daß die Ankunft im Fleische nur ein erster Schritt war. Die eigentliche Ankunft vollzieht sich, indem Christus nicht mehr an einen Ort oder an einen lokal fixierten Körper gebunden ist, sondern als der Auferstandene im Geist zu allen kommt, womit auch die Einführung in die Wahrheit ihre immer weitergehende Tiefe empfängt. Insofern scheint mir klar, daß - gerade wenn diese pneumatologische Christologie die Zeit der Kirche bestimmt, also die Zeit des im Geist kommenden Christus ist - das prophetische Element als Hoffnungs- und Vergegenwärtigungselement natürlich nicht fehlen und nicht fallen kann.

Die Frage ist nun, in welcher Weise dieses Element da ist. Wie verhält sich dies z. B. bei Paulus?

RATZINGER: Bei Paulus ist besonders deutlich, daß sein Apostolat als ein universelles Apostolat für die ganze Heidenwelt auch die prophetische Dimension einschließt. Es ist so, daß er aufgrund seiner Begegnung mit dem auferstandenen Christus dieses Auferstehungsgeheimnis eröffnet und in die Tiefe des Evangeliums einführt. Durch die Begegnung lernt er das Wort Christi neu zu verstehen, stellt den Hoffnungscharakter heraus und bringt auch seine kritischen Potenzen zur Geltung.

Apostel ist natürlich ein unwiederholbares Phänomen. Die Frage stellt sich also, was in der Zeit der Kirche nach dem Abschluß der apostolischen Ära geschieht. Für diese Frage ist eine Stelle im 2. Kapitel des Epheserbriefes sehr wichtig. Die Kirche ist gegründet auf die Apostel und die Propheten 12.

Früher dachte man, daß mit den Aposteln hier die Zwölf und mit den Propheten die des Alten Testaments gemeint sind. Die moderne Exegese(Wissenschaft der Bibelauslegung; Anm. der Red.) sagt uns, daß der Apostelbegriff hier weiter gefaßt ist und daß der Prophetenbegriff sich auf die Propheten in der Kirche bezieht. Die gab es damals offensichtlich als Amt, was man ja auch aus dem 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes herauslesen kann. Das gleiche kann über die Didaché gesagt werden, in welcher das Prophetenamt ganz klar immer noch da ist.

Später ist das Prophetenamt als Amt erloschen, und das sicher auch nicht zufällig, denn schon im Alten Testament zeigt sich, daß das Prophetentum nicht institutionalisierbar ist. Die Kritik der Propheten richtet sich ja nicht nur gegen die Priester, sie richtet sich auch gegen die institutionalisierten Propheten. Das ist im Buch Amos sehr klar, wo der Prophet gegen die Reichspropheten redet. Die Propheten reden oft gegen die Propheten als Institution, weil das Prophetische viel stärker der Raum ist, in dem Gott sich vorbehält, selbst immer wieder neu einzugreifen und die Initiative zu ergreifen. Insofern kann es eigentlich gar nicht in Form eines wieder institutionalisierten Amtes da sein. Mir scheint, in einer zweifachen Form sollte es da sein und ist es die ganze Kirchengeschichte hindurch da.

Zum einen sollte - genau wie die Apostel auf ihre Weise auch Propheten waren - im apostolischen Amt selber auch der prophetische Anspruch immer erkannt werden, so daß also nicht nur das Gegenwärtige in der Kirche weitergeführt wird, sondern der Heilige Geist selber immer seine Einwirkungsmöglichkeit habe. Dies sehen wir in der Kirchengeschichte an den großen Gestalten wie etwa Gregor dem Großen, aber auch bei Augustin. Man könnte immer wieder große Amtsträger nennen, die wirklich auch prophetische Gestalten gewesen sind. Das ist also das eine, daß die Amtsträger selber dem Heiligen Geist die Tür offen halten. Nur so kann das Amt in prophetischer Weise verwaltet werden, wie die Didaché es sehr schön verbindet.

Das zweite ist, daß Gott sich durch die Charismen das Recht vorbehält, immer wieder unmittelbar in die Kirche hineinzureden, sie aufzuwecken, zu warnen, zu fördern und zu heiligen. Ich glaube, diese charismatisch-prophetische Geschichte durchzieht die Zeit der Kirche. Besonders an den kritischen Wendepunkten ist sie immer da. Hier kann man z.B. an den Aufbruch der Mönchsbewegung denken, an Antonius, der in die Wüste geht und damit einen Impuls setzt. Die Mönche haben ja eigentlich die Christologie gegen den Arianismus und auch gegen den Nestorianismus gerettet. Auch Basilius ist eine solche Gestalt, ein großer Bischof, der zugleich auch ein wirklich prophetischer Mann ist. Dann ist unschwer zu sehen, daß die Bettelordensbewegung ein charismatischer Aufbruch war. Dominikus und Franziskus, die nicht Zukunftsprophezeiungen sagen, die aber die Stunde der Kirche erkennen und aus dem Feudalsystem ausbrechen, die wieder die Universalität des Evangeliums und seiner Armut sowie die "vita apostolica" zur Geltung bringen und insofern wirklich das Grundlegende der vom Heiligen Geist belebten und von Christus her getragenen Kirche zur Geltung bringen, bewirken neue Aufbrüche und tragen so auch zur Reform der Hierarchie bei. Andere Beispiele sind Katharina von Siena oder Birgitta von Schweden, die großen Frauengestalten. Es ist - glaube ich - ganz wichtig zu sehen, daß in einer besonders kritischen Stunde der Kirche, nämlich in der Krise von Avignon und des darauf folgenden Schismas, Frauen aufgestanden sind, um den Anspruch des lebendigen und in seiner Kirche leidenden Christus zur Geltung zu bringen.

Wenn man die Kirchengeschichte anschaut, wird klar, daß der größte Anteil der prophetischen Mystiker unter den Frauen zu finden ist. Dies ist sehr interessant und könnte für die Diskussion über das Frauenpriestertum Bedeutung haben. Was denken Sie dazu?

RATZINGER: Es gibt eine alte patristische Tradition, die Maria zwar nicht Priesterin, wohl aber Prophetin nennt. Der Titel Prophetin ist ganz deutlich für Maria in der patristischen Tradition ausgeprägt. An ihr definiert man geradezu auch, was Prophetie ist, nämlich diese innere Hörfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität, die überhaupt den Zuspruch des Geistes wahrnimmt, ihn verinnerlicht und dadurch fruchtbar macht und fruchtbar in die Welt hineinträgt. Insofern könnte man in gewisser Hinsicht und ohne Ausschließlichkeit geradezu sagen, daß eigentlich die marianische Linie die prophetische in der Kirche ist. Maria wird von den Vätern immer als der Urtyp der christlichen Propheten angesehen, und von ihr her geht die prophetische Linie dann in die Kirchengeschichte hinein. Hierher gehören auch Schwestern der großen Heiligen. Der heilige Ambrosius hatte für seinen geistlichen Weg sehr viel seiner heiligen Schwester zu verdanken. Ähnliches gilt für Basilius und Gregor von Nyssa wie für den heiligen Benedikt. Danach stoßen wir auf die großen Frauen des Spätmittelalters, zu denen man auch Francesca Romana hinzunehmen muß. Im 16. Jahrhundert hat Teresa von Avila für Johannes vom Kreuz wie überhaupt für die ganze Entwicklung von Glaube und Frömmigkeit eine sehr wichtige Rolle gespielt.

Die Linie der prophetischen Frauen ist für die Kirchengeschichte von großer Bedeutung. Katharina von Siena und Birgitta von Schweden können als eine Art Modellfall gelten, der das besser zu verstehen hilft. Beide haben in eine Kirche hineingesprochen, in der zwar immer noch das apostolische Amt da war und die Sakramente gespendet wurden und in der insofern das Wesentliche unverloren war, die aber doch in inneren Streitigkeiten zu verfallen drohte. Diese Kirche haben sie aufgeweckt und in ihr wieder das Charisma der Einheit, die Demut und den Mut des Evangeliums und der Evangelisierung zur Geltung gebracht.

Sie haben gesagt, daß die Endgültigkeit - was nicht gleichbedeutend ist mit Abschluß - der Offenbarung in Christus nicht eine Endgültigkeit der Sätze ist. Dies ist für das Thema der christlichen Prophetie sehr interessant. Die brennende Frage ist natürlich jetzt, inwieweit die Propheten in der Geschichte und auch für die Theologie selbst etwas radikal Neues sagen können. Es scheint nachweisbar zu sein, daß die meisten der letzten großen Dogmen mehr oder weniger direkt zurückführbar sind auf die Offenbarungen großer prophetisch geprägter Heiliger, z.B. die Offenbarungen der Katharina von Labouré und dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis. Dies ist ein Thema, das in den Büchern der Theologie nur sehr wenig berührt ist.

RATZINGER: Ja, das müßte man wirklich erst noch richtig angehen. Ich glaube, Balthasar hat einmal herausgestellt, daß hinter den großen Theologen immer irgendwo zuerst ein Prophet steht. Augustinus ist undenkbar ohne die Begegnung mit dem Mönchstum, besonders Antonius, und auch Athanasius hängt davon ab. Thomas von Aquin wiederum ist undenkbar ohne Dominikus, ohne das vorhergehende Charisma der Evangelisierung, das in ihm aufbricht. Wenn man seine Schriften liest, sieht man, wie wichtig gerade dieses Thema für ihn ist. Das Thema spielt eine große Rolle in seinem Streit mit dem Weltklerus und mit der Universität Paris, wo er über die Rechtfertigung seines Status nachdenken muß. Er sagt da, daß die eigentliche Ordensregel sich in der Schrift findet und daß sie zusammengesetzt ist aus dem vierten Kapitel der Apostelgeschichte 13 ("ein Herz und eine Seele sein") und dem zehnten Kapitel des Matthäusevangeliums 14 ("arm ausziehen und das Evangelium verkünden"). Das ist nach Thomas die Regel aller Regeln. Alle konkreten monastischen Realisierungen können eigentlich nichts anderes sein als Ausführungen dieses Urmodells, das zunächst natürlich apostolischen Charakter hat, aber das ihm durch die prophetische Gestalt des Dominikus überhaupt neu zugetragen worden ist. Von diesem Urmodell her entwickelt Thomas seine Theologie eben als Evangelisierung, als Herumgehen mit und für das Evangelium aus dem Eingewurzeltsein in das "ein Herz und eine Seele sein" der glaubenden Gemeinschaft. Das gleiche könnte man über Bonaventura und Franz von Assisi sagen, und genau so verhält es sich mit Hans Urs von Balthasar. Hans Urs von Balthasar ist undenkbar ohne Adrienne von Speyer.

Ich glaube, man könnte bei allen wirklich großen theologischen Gestalten zeigen, daß neue theologische Aufbrüche nur dann ermöglicht werden, wenn zuerst ein prophetischer Durchbruch da ist. Solange man nur rational weiterarbeitet, kommt nichts wesentlich Neues. Es wird vielleicht immer genauer systematisiert, es werden immer subtilere Fragen erfunden, aber die eigentlichen Durchbrüche, in denen dann wieder große Theologie neu entsteht, kommen nicht einfach aus dem rationalen Geschäft der Theologie, sondern aus einem charismatischen, prophetischen Anstoß heraus. Insofern - glaube ich - gehören Prophetie und Theologie eng zusammen. Die Theologie als wissenschaftliche Theologie im strengen Sinn ist nicht prophetisch, aber sie wird nur wirklich lebendige Theologie, wenn sie von einem prophetischen Impuls angeschoben und erleuchtet ist.

Im großen Glaubensbekenntnis heißt es vom Heiligen Geist, daß er "gesprochen hat durch die Propheten". Die Frage ist nun: Sind die hier erwähnten Propheten die Propheten des Alten Bundes, oder könnte es sein, daß damit die Propheten des Neuen Bundes gemeint sind?

RATZINGER: Man müßte die Geschichte des Glaubensbekenntnisses genau studieren. Zweifellos ist vom Wortlaut her allein die alttestamentliche Prophetie gemeint (vgl. das Perfekt: gesprochen hat) und damit die pneumatologische Dimension der Offenbarung als solche sehr stark herausstellt. Der Geist geht zuerst Christus voran und bereitet ihm den Weg, um ihn dann auszulegen und so in alle Wahrheit einzuführen. Es gibt verschiedene Symboltypen, in denen diese Dimension sehr stark betont wird. Die Propheten sind vor allem in der östlichen Tradition als eine vorgängige Ökonomie des Heiligen Geistes betrachtet, der schon vor Christus spricht und in den Propheten der eigentlich Sprechende ist. Ich bin sicher, daß der Primärakzent darauf liegt, daß der Geist die Tür auftut und damit überhaupt Christus "ex Spiritu Sancto" empfangen werden kann. Das, was dann in Maria "ex Spiritu Sancto" geschieht, ist gleichsam ein lang vorbereiteter Akt. Sie nimmt die ganze Prophetie als die ganze Geistökonomie in sich auf. Das "ex Spiritu Sancto" der ganzen Prophetie versammelt sich danach in ihr in der Empfängnis Christi.

Dies würde trotzdem meiner Meinung nach nicht die weitergehende Perspektive ausschließen, daß Christus immer wieder "ex Spiritu Sancto" empfangen wird. Der heilige Lukas selber hat ja bewußt Kindheitsgeschichte und Apostelgeschichte 2 (Geburt der Kirche) parallelisiert. Im Kreis der um Maria versammelten zwölf Apostel geschieht die "conceptio ex Spiritu Sancto", die sich in der Kirchenwerdung neu vollzieht. Insofern ist die Geistökonomie nicht einfach als abgeschlossen erklärt, auch wenn der Text als solcher nur von den alttestamentlichen Propheten spricht.

Johannes der Täufer wird oft als letzter Prophet bezeichnet. Wie soll man dies Ihrer Meinung nach verstehen?

RATZINGER: Ich denke, das hat sicher viele Gründe und Inhalte. Ein Grund dürfte das Wort Jesu sein: Bis zu Johannes hin gehen das Gesetz und die Propheten, und dann kommt das Reich Gottes 15. Hier erklärt Jesus selber Johannes als einen Abschluß. Danach kommt der scheinbar Kleinere, Jesus selbst 16, der aber doch der Größere im Reich Gottes ist. In diesem Wort wird der Täufer zunächst einmal noch dem Alten Bund zugeordnet, wodurch er aber der Türöffner in den Neuen Bund hinein ist und insofern als der letzte Prophet des Alten Bundes dasteht. Das ist dann auch der legitime Sinn des Begriffes: Johannes ist der Letzte, der noch vor Christus da ist und der die Fackel der ganzen prophetischen Bewegung aufnimmt und sie Christus in die Hand gibt und der alles, was die Propheten getan haben, um die Hoffnung auf Ihn zuzuführen, zu Ende führt und damit das Werk der Propheten im alttestamentlichen Sinn vollendet. Dabei ist ja bei ihm auch wichtig, daß er selbst nicht als Wahrsager auftritt, sondern zunächst prophetischer Rufer zur Bekehrung ist, der gerade so die messianische Verheißung des Alten Bundes erneuert und vergegenwärtigt. Von ihm sagt er, daß "er schon in eurer Mitte steht, aber ihr kennt ihn nicht". 17. Obwohl darin das Moment der Vorhersage liegt, bleibt Johannes dem prophetischen Muster treu, daß das Eigentliche nicht die Schilderung der kommenden Dinge ist, sondern der Ruf "Jetzt ist die Stunde der Bekehrung". Der Ruf Johannes' ist also das Wiederhinführen Israels zu sich selbst und zum Akt der Bekehrung, um so jetzt, in der Stunde des Heils, den erkennen zu können, auf den Israel immer gewartet hat und der nun da ist. Johannes verkörpert in diesem Sinn den letzten der vorgängigen Propheten und damit die spezifische Hoffnungsökonomie des Alten Bundes. Was hernach geschieht, ist ein anderer Typ von Prophetie. Insofern kann er also der letzte Prophet des Alten Bundes genannt werden. Das heißt aber nicht, daß die Prophetie schlechthin selbst mit ihm zu Ende wäre, was ja auch ganz klar den Äußerungen von Paulus widerspräche, etwa seinem Wort aus dem ersten Thessalonicherbrief: "Löscht den Geist nicht aus. Verachtet prophetisches Reden nicht!" 18.

So gibt es also in einer Hinsicht zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Prophetie einen Unterschied, weil eben Christus in die Geschichte gekommen ist. Schaut man aber auf das Wesen der Prophetie, die das von Gott gehörte Wort in die Kirche hineintragen soll, scheint dieser Unterschied nicht da zu sein.

RATZINGER: Ja, es gibt eine gemeinsame Grundstruktur in der Verschiedenheit, die durch das andere Stehen zu Christus als dem Kommenden und schon gekommen immer noch Kommenden bedingt ist. Dies noch besser auszuarbeiten, wäre sicher eine lohnende Sache. Wieso ist die Zeit der Kirche strukturell in vielerlei Hinsicht dem Alten Testament gleichartig oder mindestens sehr ähnlich und worin besteht ihre Neuheit, eben die Neuheit des Gekommenseins?



Man sieht oft in der Theologie eine Tendenz zur Verabsolutierung der Unterschiede zwischen Altem und Neuem Bund. Diese Darstellung der Unterschiede scheint oft künstlich und eher prinzipiell als faktisch zu sein.

RATZINGER: Eine Radikalisierung des Unterschieds, in der die innere Einheit der Geschichte Gottes mit den Menschen nicht mehr gesehen wird, ist sicher nicht richtig und übrigens auch bei den Vätern nicht da. Die Väter stellen einen Dreischritt auf, der "umbra, imago, veritas" heißt und bei dem das Neue Testament als "imago" genommen wird. So werden AT und NT nicht einfach als Schatten und Wirklichkeit gegeneinander gestellt, sondern in der Dreiheit von Schatten-Bild-Wirklichkeit wird die Erwartung der endgültigen Erfüllung offengehalten und die Zeit des Neuen Testaments, die Zeit der Kirche, als eine weitere, höhere Stufe doch in den Verheißungsweg hineingestellt. Dies ist eine Sache, die - wie mir scheint - bisher nicht genügend beachtet ist. Die Väter haben den Zwischencharakter und die Unvollkommenheit des Neuen Testaments, in dem eben noch nicht alle Verheißungen erfüllt sind, sehr stark herausgestellt. Christus ist zwar schon ganz im Fleisch gekommen, aber die Kirche wartet weiterhin auf seine volle Offenbarung in Herrlichkeit.

Vielleicht wäre dies auch ein Grund, weswegen viele der prophetischen Gestalten in ihrer Spiritualität eschatologisch geprägt sind.

RATZINGER: Dies gehört - ohne apokalyptische Schwärmerei - meiner Ansicht nach wesentlich zum prophetischen Raum hinzu. Die Propheten stellen die Hoffnungsdimension des Christentums heraus und sind Werkzeuge für das Zudrängen auf das Ausstehende und damit das Überschreiten der Zeit auf das, was das Eigentliche und Endgültige ist. Dieser eschatologische Charakter, eben als Drängen über die Zeit hinaus, gehört ganz sicher dazu.

Wenn man die prophetische Eschatologie in Bezug auf Hoffnung darstellt, ändert sich das Bild völlig. Es ist dann keine Botschaft, die Angst eingibt, sondern den Horizont aufmacht für die durch Christus versprochene Erfüllung der ganzen Schöpfung.

RATZINGER: Daß der christliche Glaube nicht Angst schafft, sondern sie überwindet, ist grundlegend: Das muß die Struktur unserer Verkündigung und unserer Spiritualität bestimmen. Aber lassen Sie mich nochmals einen Augenblick zum Vorigen zurückkehren. Es ist sehr wichtig zu klären, in welchem Sinn das Christentum Erfüllung der Verheißungen ist und in welchem Sinn nicht. Ich denke, daß die gegenwärtige Glaubenskrise ganz wesentlich auch mit einer ungenügenden Klärung dieser Frage zusammenhängt. Drei Gefahren drohen hier. Erstens - man legt die Verheißungen des AT und die Heilserwartung der Menschen innerweltlich aus, im Sinn neuer und besserer Strukturen, im Sinn einer perfekten Kraft - dann kann man das Christentum nur als gescheitert bezeichnen: Von dieser Perspektive her wurde versucht, es durch den Fortschrittsglauben und hernach durch Hoffnungsideologien - die verschiedenen Variationen des Marxismus - zu ersetzen. Die zweite Gefahr ist, daß man es rein jenseitig, rein spirituell und damit auch ganz individualistisch versteht - dann wird man wieder der Ganzheit des Wesens Mensch nicht gerecht. Die dritte Gefahr, die besonders in Krisen- und Wendezeiten droht, ist das Ausweichen in apokalyptische Schwärmerei. All demgegenüber wird es immer dringender, die wahre Struktur von Verheißung und Erfüllung verständlich und lebbar darzustellen, die im christlichen Glauben vorliegt.

Man sieht oft eine große Spannung zwischen rein kontemplativer, wortloser Mystik auf der einen Seite und prophetischer Mystik oder Wortmystik auf der anderen Seite. Karl Rahner 19 hat auf diese Spannung hingewiesen. Die eine Seite behauptet, daß die kontemplative, wortlose Mystik die höhere, feinere und mehr geistige ist. In diesem Sinn werden einige Passagen von Johannes vom Kreuz ausgelegt. Die andere Seite meint, daß diese nur wortlose Mystik im Grunde genommen dem Christentum fremd sei, weil der christliche Glaube wesentlich eine Religion des Wortes ist 20.

RATZINGER: Ja, ich würde schon sagen, daß die eigentlich christliche Mystik auch Sendungsstruktur hat. Sie ist nicht nur Erhebung des einzelnen, sondern sie setzt den Empfänger mit dem Wort, mit Christus, mit dem Logos im Heiligen Geist in Verbindung und stellt den einzelnen damit in einen Auftrag. Dies wird von Thomas von Aquin sehr stark herausgestellt. Vor Thomas hatte man gesagt: Entweder Mönchstum und dann eben Mystiker, oder Weltpriester und dann Theologe. Dazu sagt Thomas nein. Gerade der mystische Auftrag vollendet sich in der Sendung. Die Sendung ist nicht die niedrigere Art von Lebensweise, eine Idee, die Aristoteles sehr nahe lag. Er sagte ja, daß die intellektuelle Kontemplation die höchste Stufe der Existenz ist, die dann keine Sendung mehr kennt. Christlich, sagt Thomas, ist diese Idee nicht, denn die höhere Weise ist die gemischte Lebensform, nämlich Mystik und von ihr her die Sendung des Evangeliums. Dies ist bei Teresa von Avila sehr deutlich. Sie bezieht die Mystik nachdrücklich auf die Christologie, womit sie deutlich eine Sendungsstruktur erhält. Ich möchte es zwar nicht ausschließen, daß der Herr auch christliche Mystiker erwecken kann, die keine typische Sendung in die Kirche hinein haben, aber die Christologie als Grund und Maß aller christlichen Mystik (Christus und der Heilige Geist sind untrennbar!) zeichnet doch eine andere Struktur vor. Das "Auge in Auge" Jesu Christi mit dem Vater schließt sein Sein "für die anderen", "für alle" mit ein. Wenn Mystik wesentlich Eintauchen in die Gemeinschaft mit Christus ist, dann ist ihr dieses "Für" von innen her eingeschrieben.

Sehr viele der christlichen Propheten, so wie etwa Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und Faustina Kowalska, führen ihre prophetische Rede direkt zurück auf Offenbarungen von Christus. Diese Offenbarungen werden von der Theologie oft mit dem Begriff der Privatoffenbarungen bezeichnet. Dieser Begriff scheint aber sehr mangelhaft zu sein, denn Prophetie ist immer für die ganze Kirche und nie rein privat.

RATZINGER: Der Begriff "privat" bedeutet in der Theologie nicht, daß etwas nur den Betroffenen angeht und alle anderen nicht. Er ist vielmehr Ausdruck für eine Rangstufe, so z.B. auch beim Begriff "Privatmesse". Es soll also gesagt sein: Die "Offenbarungen" christlicher Mystiker und Propheten können nie denselben Rang haben wie die biblische Offenbarung, sie können nur zu ihr hinführen und sind an ihr zu messen. Das bedeutet aber nicht, daß solche Offenbarungen ohne Bedeutung fürs Ganze der Kirche wären. Lourdes und Fatima zeigen das Gegenteil. Sie sind letztlich nur Erinnerung an die biblische Offenbarung, aber gerade deshalb wichtig.

Es ist ein Faktum der Kirchengeschichte, daß es ohne gegenseitige Verwundung nicht geht... Wie würden Sie dieses Dilemma bewerten?

RATZINGER: Es war immer wieder so, daß der prophetische Anstoß nicht ohne gegenseitige Leidenserfahrung gehen kann. Der Prophet ist in einer spezifischen Weise in die Leidensnachfolge berufen: Die Bereitschaft zu leiden, in die Kreuzesgemeinschaft mit Christus einzutreten, ist sein eigentlicher Prüfstein. Er versucht nicht, sich selbst durchzusetzen. Seine Botschaft wird im Kreuz verifiziert und fruchtbar.

Man könnte ja beinahe darüber frustriert sein, daß die meisten prophetischen Gestalten der Kirche von der Zeit, in der sie lebten, verworfen wurden. Es geht fast nie ohne kritische oder gar abweisende Stellungnahme von Seiten der Kirche. Dies sieht man bei den meisten der christlichen Propheten und Prophetinnen...

RATZINGER: Ja, Ignatius von Loyola muß in das Gefängnis, das gleiche passiert mit Johannes vom Kreuz, und Birgitta von Schweden wird beinahe auf dem Konzil von Basel verurteilt. Übrigens ist es eine Erbschaft der Glaubenskongregation, daß wir da, wo mystische Ansprüche auftreten, zunächst sehr reserviert sind. Dies ist auch durchaus berechtigt: Es gibt sehr viel falsche Mystik, viel Pathologisches. Insofern muß da schon eine sehr kritische Sonde angelegt werden, damit man nicht einfach in das Sensationelle, in das Abenteuerliche oder in das Abergläubische verfällt. Der Mystiker erweist sich im Leid, im Gehorsam und im Durchtragen, und so bewährt sich dann seine Stimme. Umgekehrt bleibt da für die Kirche eine Ermahnung, man sollte ihr nicht nachsagen können: Ihr habt die Propheten umgebracht 21.

Die letzte Frage ist vielleicht unangenehm. Sie bezieht sich auf eine prophetische Gestalt der Gegenwart, nämlich die griechisch- orthodoxe Vassula Rydén. Sie wird von vielen Gläubigen, auch von vielen Theologen, Priestern und Bischöfen der katholischen Kirche, als Botin Christi angesehen. Ihre Botschaften, die seit 1991 in 34 Sprachen übersetzt wurden, sind weit verbreitet. Die Glaubenskongregation hat sich ihr gegenüber jedoch negativ geäußert. Die "Notifikation" von 1995, die neben positiven Aspekten in ihren Schriften auch von Unklarheiten spricht, ist von einigen Kommentatoren so ausgelegt worden, als handle es sich um eine Verurteilung. Ist das wahr?

RATZINGER: Da rühren Sie ein schwieriges Thema an. Nein, die "Notifikation" ist ein Warnschild, keine Verurteilung. Eine Person könnte man ohne Prozeß und Anhören gar nicht verurteilen, rein prozedural betrachtet. Es wird gesagt: Vieles ist ungeklärt. Es sind fragwürdige apokalyptische Elemente enthalten und ungeklärte ekklesiologische Aspekte. Es ist viel Gutes dabei, aber Spreu und Weizen sind vermengt. Deshalb haben wir die katholischen Christen ermahnt, das Ganze mit Vorsicht zu betrachten und es am Maß des beständigen Glaubens der Kirche zu messen.

Es ist also doch noch ein Klärungsprozeß im Gang?

RATZINGER: Ja, und während dieses Klärungsprozesses sollten die Gläubigen vorsichtig bleiben und den Geist der Unterscheidung wachhalten. Zweifellos ist eine Entwicklung in den Schriften festzustellen, die noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. Man darf auch nicht vergessen, daß die Wortwerdung und Bildwerdung der inneren Berührung mit Gott, auch im Fall echter Mystik, immer auf die Möglichkeiten der menschlichen Seele angewiesen ist und so auch durch deren Begrenzungen mitgeformt wird. Unbedingtes Vertrauen setzen wir dabei nur auf das eigentliche Offenbarungswort, das uns im Glauben der Kirche begegnet.


Fussnoten

1 Niels Christian Hvidt arbeitet seit 1994 mit dem Begriff der christlichen Prophetie. Dies war das Thema seiner bisher nicht veröffentlichten Lizentiatsarbeit über Prophetie und Offenbarung, die an der Theologischen Fakultät der Universität Kopenhagen im Januar 1997 eingereicht und mit der Goldmedaille der Universität ausgezeichnet wurde. Eine Zusammenfassung der Arbeit wird in "Studia Theologiae - Journal of Scandinavian Theology", Nr. 2/1998, unter dem Titel "Prophecy and Revelation - a Theological Survey on the Problem of Christian Prophecy" erscheinen. Für die wertvolle Hilfe bei den Vorbereitungen auf das vorliegende Gespräch ist Niels Christian Hvidt Dr. Yvonne Maria Werner vom Institut für Geschichte an der Universität Lund, die selbst am Gespräch teilnahm, sehr dankbar.
2 "Es hat sich eigentlich nie eine orthodoxe Theologie ihrer (der Propheten) angenommen: ob es auch in der nachapostolischen Kirche Propheten gebe, wie ihr Geist erkannt und unterschieden werde, welche Funktion sie in der Kirche haben, welches ihr Verhältnis zum hierarchischen Amt sei, welche Bedeutung ihre Sendung habe für die Geschichte der Kirche in ihrem inneren und äußeren Leben". Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg 1958, Seiten 21ff.
3 Joseph Ratzinger, Die Geschichtstheologie des hl. Bonaventura, München 1959.
4 Joseph Ratzinger, La mia vita - Ricordi (1927-1977), Roma 1997, 70ff.
5 Joseph Ratzinger, La mia vita - Ricordi (1927-1977), Roma 1997, 68ff.; Joseph Kardinal Ratzinger, "Auf Christus schauen - Vorüberlegungen zum Sinn des Jubiläumsjahres 2000", in: Deutsche Tagespost, Nr. 31, 11. März 1997,Seite 5
(Anm. der Übersetzung: 'Logos', griechisch: das Wort, steht für ''Offenbarung, Wille Gottes und menschgewordenes Wort Gottes in der Person Jesu' aber auch 'Gott, Vernunft Gottes, Vernunft Gottes als Weltschöpfungskraft' (Theol.))
6 Joseph Kardinal Ratzinger, "Auf Christus schauen - Vorüberlegungen zum Sinn des Jubiläumsjahres 2000", in: Deutsche Tagespost, Nr. 31, 11. März 1997,Seite 5
7 Joseph Kardinal Ratzinger, Wesen und Auftrag der Theologie, Freiburg 1993, Seite 106.
8 Vgl. Dtn 34, 10
9 Vgl. Eph 1,23; 4,10
10 Vgl. Joh 16,13.
11 Vgl. Joh 16, 5ff
12 Vgl. Eph 2,20 ; und Eph 4,11
13 Apg 4, 32
14 Vgl. Mt 10, 8-10
15 Vgl. Mt 11, 13
16 Vgl. Mt 11,11-15
17 Vgl. Joh 1,26ff.
18 Vgl. 1 Thess 5,19-20
19 " ...ja, kann man (mit einer kleinen Übertreibung vielleicht) sagen, daß die Geschichte der Theologie der Mystik eine Geschichte der theoretischen Abwertung des Prophetischen zugunsten einer Aufwertung der unprophetischen 'reinen' eingegossenen Beschauung ist" (Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg 1958, Seite 21).
20 "In einer gewissen Hinsicht, so könnte man sagen, entspricht die Zweieinheit von Gott und Zeichen im Visionären, die vom Zeichen her einen 'geschichtlichen' Charakter erhält, mehr dem Grundcharakter des Christentums als eine bloß ‚bild-lose' Art, bei der das alte Problem immer wieder aufbricht, ob solche Frömmigkeit der reinen Geisttranszendenz eigentlich christlich sei" (Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg 1958, Seite 15.
21 Vgl. Lk 13, 34 und Mt 23, 37-39


DIDASCALIE

Kardinal Joseph Ratzinger auf Wallfahrt nach Jerusalem.

Details vom Tor der Jungfrau, Parma Baptistry, der Arbeit von Benedetto Antelami, 13. Jahrhundert. Der Lunette-Bogen stellt Propheten dar, die goldene Platten halten, die Abbildungen der Apostel enthalten. Hier der Prophet Ezra und der Apostel Bartholomaeus

Lunette. Im zentralen Teil von linker Seite aus, die Anbetung der Magier, die Madonna mit dem Kind und Josephs Traum. An den Extremen des Architrave vom Tor der Jungfrau bringt eine Inschrift zum Vorschein, wann die Arbeit desTaufbeckens begann: 1196.

Die Propheten Jesaja und Jeremias und die Apostel Peter und Paul



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