Das Problem der Christlichen Prophetie (Fortsetzung)
Wenn man die Kirchengeschichte anschaut, wird klar, daß der größte Anteil der prophetischen Mystiker unter den Frauen zu finden ist. Dies ist sehr interessant und könnte für die Diskussion über das Frauenpriestertum Bedeutung haben. Was denken Sie dazu?
RATZINGER:
Es gibt eine alte patristische Tradition, die Maria zwar nicht Priesterin, wohl aber Prophetin nennt. Der Titel Prophetin ist ganz deutlich für Maria in der patristischen Tradition ausgeprägt. An ihr definiert man geradezu auch, was Prophetie ist, nämlich diese innere Hörfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität, die überhaupt den Zuspruch des Geistes wahrnimmt, ihn verinnerlicht und dadurch fruchtbar macht und fruchtbar in die Welt hineinträgt. Insofern könnte man in gewisser Hinsicht und ohne Ausschließlichkeit geradezu sagen, daß eigentlich die marianische Linie die prophetische in der Kirche ist. Maria wird von den Vätern immer als der Urtyp der christlichen Propheten angesehen, und von ihr her geht die prophetische Linie dann in die Kirchengeschichte hinein. Hierher gehören auch Schwestern der großen Heiligen. Der heilige Ambrosius hatte für seinen geistlichen Weg sehr viel seiner heiligen Schwester zu verdanken. Ähnliches gilt für Basilius und Gregor von Nyssa wie für den heiligen Benedikt. Danach stoßen wir auf die großen Frauen des Spätmittelalters, zu denen man auch Francesca Romana hinzunehmen muß. Im 16. Jahrhundert hat Teresa von Avila für Johannes vom Kreuz wie überhaupt für die ganze Entwicklung von Glaube und Frömmigkeit eine sehr wichtige Rolle gespielt.
Die Linie der prophetischen Frauen ist für die Kirchengeschichte von großer Bedeutung. Katharina von Siena und Birgitta von Schweden können als eine Art Modellfall gelten, der das besser zu verstehen hilft. Beide haben in eine Kirche hineingesprochen, in der zwar immer noch das apostolische Amt da war und die Sakramente gespendet wurden und in der insofern das Wesentliche unverloren war, die aber doch in inneren Streitigkeiten zu verfallen drohte. Diese Kirche haben sie aufgeweckt und in ihr wieder das Charisma der Einheit, die Demut und den Mut des Evangeliums und der Evangelisierung zur Geltung gebracht.
Sie haben gesagt, daß die Endgültigkeit - was nicht gleichbedeutend ist mit Abschluß - der Offenbarung in Christus nicht eine Endgültigkeit der Sätze ist. Dies ist für das Thema der christlichen Prophetie sehr interessant. Die brennende Frage ist natürlich jetzt, inwieweit die Propheten in der Geschichte und auch für die Theologie selbst etwas radikal Neues sagen können. Es scheint nachweisbar zu sein, daß die meisten der letzten großen Dogmen mehr oder weniger direkt zurückführbar sind auf die Offenbarungen großer prophetisch geprägter Heiliger, z.B. die Offenbarungen der Katharina von Labouré und dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis. Dies ist ein Thema, das in den Büchern der Theologie nur sehr wenig berührt ist...
RATZINGER:
Ja, das müßte man wirklich erst noch richtig angehen. Ich glaube, Balthasar hat einmal herausgestellt, daß hinter den großen Theologen immer irgendwo zuerst ein Prophet steht. Augustinus ist undenkbar ohne die Begegnung mit dem Mönchstum, besonders Antonius, und auch Athanasius hängt davon ab. Thomas von Aquin wiederum ist undenkbar ohne Dominikus, ohne das vorhergehende Charisma der Evangelisierung, das in ihm aufbricht. Wenn man seine Schriften liest, sieht man, wie wichtig gerade dieses Thema für ihn ist. Das Thema spielt eine große Rolle in seinem Streit mit dem Weltklerus und mit der Universität Paris, wo er über die Rechtfertigung seines Status nachdenken muß. Er sagt da, daß die eigentliche Ordensregel sich in der Schrift findet und daß sie zusammengesetzt ist aus dem vierten Kapitel der Apostelgeschichte 13 ("ein Herz und eine Seele sein") und dem zehnten Kapitel des Matthäusevangeliums 14 ("arm ausziehen und das Evangelium verkünden"). Das ist nach Thomas die Regel aller Regeln. Alle konkreten monastischen Realisierungen können eigentlich nichts anderes sein als Ausführungen dieses Urmodells, das zunächst natürlich apostolischen Charakter hat, aber das ihm durch die prophetische Gestalt des Dominikus überhaupt neu zugetragen worden ist. Von diesem Urmodell her entwickelt Thomas seine Theologie eben als Evangelisierung, als Herumgehen mit und für das Evangelium aus dem Eingewurzeltsein in das "ein Herz und eine Seele sein" der glaubenden Gemeinschaft. Das gleiche könnte man über Bonaventura und Franz von Assisi sagen, und genau so verhält es sich mit Hans Urs von Balthasar. Hans Urs von Balthasar ist undenkbar ohne Adrienne von Speyer.
Ich glaube, man könnte bei allen wirklich großen theologischen Gestalten zeigen, daß neue theologische Aufbrüche nur dann ermöglicht werden, wenn zuerst ein prophetischer Durchbruch da ist. Solange man nur rational weiterarbeitet, kommt nichts wesentlich Neues. Es wird vielleicht immer genauer systematisiert, es werden immer subtilere Fragen erfunden, aber die eigentlichen Durchbrüche, in denen dann wieder große Theologie neu entsteht, kommen nicht einfach aus dem rationalen Geschäft der Theologie, sondern aus einem charismatischen, prophetischen Anstoß heraus. Insofern - glaube ich - gehören Prophetie und Theologie eng zusammen. Die Theologie als wissenschaftliche Theologie im strengen Sinn ist nicht prophetisch, aber sie wird nur wirklich lebendige Theologie, wenn sie von einem prophetischen Impuls angeschoben und erleuchtet ist.
Im großen Glaubensbekenntnis heißt es vom Heiligen Geist, daß er "gesprochen hat durch die Propheten". Die Frage ist nun: Sind die hier erwähnten Propheten die Propheten des Alten Bundes, oder könnte es sein, daß damit die Propheten des Neuen Bundes gemeint sind?
RATZINGER:
Man müßte die Geschichte des Glaubensbekenntnisses genau studieren. Zweifellos ist vom Wortlaut her allein die alttestamentliche Prophetie gemeint (vgl. das Perfekt: gesprochen hat) und damit die pneumatologische Dimension der Offenbarung als solche sehr stark herausstellt. Der Geist geht zuerst Christus voran und bereitet ihm den Weg, um ihn dann auszulegen und so in alle Wahrheit einzuführen. Es gibt verschiedene Symboltypen, in denen diese Dimension sehr stark betont wird. Die Propheten sind vor allem in der östlichen Tradition als eine vorgängige Ökonomie des Heiligen Geistes betrachtet, der schon vor Christus spricht und in den Propheten der eigentlich Sprechende ist. Ich bin sicher, daß der Primärakzent darauf liegt, daß der Geist die Tür auftut und damit überhaupt Christus "ex Spiritu Sancto" empfangen werden kann. Das, was dann in Maria "ex Spiritu Sancto" geschieht, ist gleichsam ein lang vorbereiteter Akt. Sie nimmt die ganze Prophetie als die ganze Geistökonomie in sich auf. Das "ex Spiritu Sancto" der ganzen Prophetie versammelt sich danach in ihr in der Empfängnis Christi.
Dies würde trotzdem meiner Meinung nach nicht die weitergehende Perspektive ausschließen, daß Christus immer wieder "ex Spiritu Sancto" empfangen wird. Der heilige Lukas selber hat ja bewußt Kindheitsgeschichte und Apostelgeschichte 2 (Geburt der Kirche) parallelisiert. Im Kreis der um Maria versammelten zwölf Apostel geschieht die "conceptio ex Spiritu Sancto", die sich in der Kirchenwerdung neu vollzieht. Insofern ist die Geistökonomie nicht einfach als abgeschlossen erklärt, auch wenn der Text als solcher nur von den alttestamentlichen Propheten spricht.
Johannes der Täufer wird oft als letzter Prophet bezeichnet. Wie soll man dies Ihrer Meinung nach verstehen?
RATZINGER:
Ich denke, das hat sicher viele Gründe und Inhalte. Ein Grund dürfte das Wort Jesu sein: Bis zu Johannes hin gehen das Gesetz und die Propheten, und dann kommt das Reich Gottes 15. Hier erklärt Jesus selber Johannes als einen Abschluß. Danach kommt der scheinbar Kleinere, Jesus selbst 16, der aber doch der Größere im Reich Gottes ist. In diesem Wort wird der Täufer zunächst einmal noch dem Alten Bund zugeordnet, wodurch er aber der Türöffner in den Neuen Bund hinein ist und insofern als der letzte Prophet des Alten Bundes dasteht. Das ist dann auch der legitime Sinn des Begriffes: Johannes ist der Letzte, der noch vor Christus da ist und der die Fackel der ganzen prophetischen Bewegung aufnimmt und sie Christus in die Hand gibt und der alles, was die Propheten getan haben, um die Hoffnung auf Ihn zuzuführen, zu Ende führt und damit das Werk der Propheten im alttestamentlichen Sinn vollendet. Dabei ist ja bei ihm auch wichtig, daß er selbst nicht als Wahrsager auftritt, sondern zunächst prophetischer Rufer zur Bekehrung ist, der gerade so die messianische Verheißung des Alten Bundes erneuert und vergegenwärtigt. Von ihm sagt er, daß "er schon in eurer Mitte steht, aber ihr kennt ihn nicht". 17. Obwohl darin das Moment der Vorhersage liegt, bleibt Johannes dem prophetischen Muster treu, daß das Eigentliche nicht die Schilderung der kommenden Dinge ist, sondern der Ruf "Jetzt ist die Stunde der Bekehrung". Der Ruf Johannes' ist also das Wiederhinführen Israels zu sich selbst und zum Akt der Bekehrung, um so jetzt, in der Stunde des Heils, den erkennen zu können, auf den Israel immer gewartet hat und der nun da ist. Johannes verkörpert in diesem Sinn den letzten der vorgängigen Propheten und damit die spezifische Hoffnungsökonomie des Alten Bundes. Was hernach geschieht, ist ein anderer Typ von Prophetie. Insofern kann er also der letzte Prophet des Alten Bundes genannt werden. Das heißt aber nicht, daß die Prophetie schlechthin selbst mit ihm zu Ende wäre, was ja auch ganz klar den Äußerungen von Paulus widerspräche, etwa seinem Wort aus dem ersten Thessalonicherbrief: "Löscht den Geist nicht aus. Verachtet prophetisches Reden nicht!" 18.
So gibt es also in einer Hinsicht zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Prophetie einen Unterschied, weil eben Christus in die Geschichte gekommen ist. Schaut man aber auf das Wesen der Prophetie, die das von Gott gehörte Wort in die Kirche hineintragen soll, scheint dieser Unterschied nicht da zu sein ...
RATZINGER:
Ja, es gibt eine gemeinsame Grundstruktur in der Verschiedenheit, die durch das andere Stehen zu Christus als dem Kommenden und schon gekommen oder immer noch Kommenden bedingt ist. Dies noch besser auszuarbeiten, wäre sicher eine lohnende Sache: Wieso ist die Zeit der Kirche strukturell in vielerlei Hinsicht dem Alten Testament gleichartig oder mindestens sehr ähnlich und worin besteht ihre Neuheit, eben die Neuheit des Gekommenseins?
Man sieht oft in der Theologie eine Tendenz zur Verabsolutierung der Unterschiede zwischen Altem und Neuem Bund. Diese Darstellung der Unterschiede scheint oft künstlich und eher prinzipiell als faktisch zu sein.
RATZINGER:
Eine Radikalisierung des Unterschieds, in der die innere Einheit der Geschichte Gottes mit den Menschen nicht mehr gesehen wird, ist sicher nicht richtig und übrigens auch bei den Vätern nicht da. Die Väter stellen einen Dreischritt auf, der "umbra, imago, veritas" heißt und bei dem das Neue Testament als "imago" genommen wird. So werden AT und NT nicht einfach als Schatten und Wirklichkeit gegeneinander gestellt, sondern in der Dreiheit von Schatten-Bild-Wirklichkeit wird die Erwartung der endgültigen Erfüllung offengehalten und die Zeit des Neuen Testaments, die Zeit der Kirche, als eine weitere, höhere Stufe doch in den Verheißungsweg hineingestellt. Dies ist eine Sache, die - wie mir scheint - bisher nicht genügend beachtet ist. Die Väter haben den Zwischencharakter und die Unvollkommenheit des Neuen Testaments, in dem eben noch nicht alle Verheißungen erfüllt sind, sehr stark herausgestellt. Christus ist zwar schon ganz im Fleisch gekommen, aber die Kirche wartet weiterhin auf seine volle Offenbarung in Herrlichkeit.
Vielleicht wäre dies auch ein Grund, weswegen viele der prophetischen Gestalten in ihrer Spiritualität eschatologisch geprägt sind.
RATZINGER:
Dies gehört - ohne apokalyptische Schwärmerei - meiner Ansicht nach wesentlich zum prophetischen Raum hinzu. Die Propheten stellen die Hoffnungsdimension des Christentums heraus und sind Werkzeuge für das Zudrängen auf das Ausstehende und damit das Überschreiten der Zeit auf das, was das Eigentliche und Endgültige ist. Dieser eschatologische Charakter, eben als Drängen über die Zeit hinaus, ist ganz sicher Teil der prophetischen Spiritualität.
Wenn man die prophetische Eschatologie in Bezug auf Hoffnung darstellt, ändert sich das Bild völlig. Es ist dann keine Botschaft, die Angst eingibt, sondern den Horizont aufmacht für die durch Christus versprochene Erfüllung der ganzen Schöpfung.
RATZINGER:
Daß der christliche Glaube nicht Angst schafft, sondern sie überwindet, ist grundlegend: Das muß die Struktur unserer Verkündigung und unserer Spiritualität bestimmen. Aber lassen Sie mich nochmals einen Augenblick zum Vorigen zurückkehren. Es ist sehr wichtig zu klären, in welchem Sinn das Christentum Erfüllung der Verheißungen ist und in welchem Sinn nicht. Ich denke, daß die gegenwärtige Glaubenskrise ganz wesentlich auch mit einer ungenügenden Klärung dieser Frage zusammenhängt. Drei Gefahren drohen hier. Erstens - man legt die Verheißungen des AT und die Heilserwartung der Menschen innerweltlich aus, im Sinn neuer und besserer Strukturen, im Sinn einer perfekten Kraft - dann kann man das Christentum nur als gescheitert bezeichnen: Von dieser Perspektive her wurde versucht, es durch den Fortschrittsglauben und hernach durch Hoffnungsideologien - die verschiedenen Variationen des Marxismus - zu ersetzen. Die zweite Gefahr ist, daß man es rein jenseitig, rein spirituell und damit auch ganz individualistisch versteht - dann wird man wieder der Ganzheit des Wesens Mensch nicht gerecht. Die dritte Gefahr, die besonders in Krisen- und Wendezeiten droht, ist das Ausweichen in apokalyptische Schwärmerei. All demgegenüber wird es immer dringender, die wahre Struktur von Verheißung und Erfüllung verständlich und lebbar darzustellen, die im christlichen Glauben vorliegt.
Man sieht oft eine große Spannung zwischen rein kontemplativer, wortloser Mystik auf der einen Seite und prophetischer Mystik oder Wortmystik auf der anderen Seite. Karl Rahner 19 hat auf diese Spannung hingewiesen. Die eine Seite behauptet, daß die kontemplative, wortlose Mystik die höhere, feinere und mehr geistige ist. In diesem Sinn werden einige Passagen von Johannes vom Kreuz ausgelegt. Die andere Seite meint, daß diese nur wortlose Mystik im Grunde genommen dem Christentum fremd sei, weil der christliche Glaube wesentlich eine Religion des Wortes ist.
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RATZINGER:
Ja, ich würde schon sagen, daß die eigentlich christliche Mystik auch Sendungsstruktur hat. Sie ist nicht nur Erhebung des einzelnen, sondern sie setzt den Empfänger mit dem Wort, mit Christus, mit dem Logos im Heiligen Geist in Verbindung und stellt den einzelnen damit in einen Auftrag. Dies wird von Thomas von Aquin sehr stark herausgestellt. Vor Thomas hatte man gesagt: Entweder Mönchstum und dann eben Mystiker, oder Weltpriester und dann Theologe. Dazu sagt Thomas nein. Gerade der mystische Auftrag vollendet sich in der Sendung. Die Sendung ist nicht die niedrigere Art von Lebensweise, eine Idee, die Aristoteles sehr nahe lag. Er sagte ja, daß die intellektuelle Kontemplation die höchste Stufe der Existenz ist, die dann keine Sendung mehr kennt. Christlich, sagt Thomas, ist diese Idee nicht, denn die höhere Weise ist die gemischte Lebensform, nämlich Mystik und von ihr her die Sendung des Evangeliums. Dies ist bei Teresa von Avila sehr deutlich. Sie bezieht die Mystik nachdrücklich auf die Christologie, womit sie deutlich eine Sendungsstruktur erhält. Ich möchte es zwar nicht ausschließen, daß der Herr auch christliche Mystiker erwecken kann, die keine typische Sendung in die Kirche hinein haben, aber die Christologie als Grund und Maß aller christlichen Mystik (Christus und der Heilige Geist sind untrennbar!) zeichnet doch eine andere Struktur vor. Das "Auge in Auge" Jesu Christi mit dem Vater schließt sein Sein "für die anderen", "für alle" mit ein. Wenn Mystik wesentlich Eintauchen in die Gemeinschaft mit Christus ist, dann ist ihr dieses "Für" von innen her eingeschrieben.
Sehr viele der christlichen Propheten, so wie etwa Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und Faustina Kowalska, führen ihre prophetische Rede direkt zurück auf Offenbarungen von Christus. Diese Offenbarungen werden von der Theologie oft mit dem Begriff der Privatoffenbarungen bezeichnet. Dieser Begriff scheint aber sehr mangelhaft zu sein, denn Prophetie ist immer für die ganze Kirche und nie rein privat.
RATZINGER:
Der Begriff "privat" bedeutet in der Theologie nicht, daß etwas nur den Betroffenen angeht und alle anderen nicht. Er ist vielmehr Ausdruck für eine Rangstufe, so z.B. auch beim Begriff "Privatmesse". Es soll also gesagt sein: Die "Offenbarungen" christlicher Mystiker und Propheten können nie denselben Rang haben wie die biblische Offenbarung, sie können nur zu ihr hinführen und sind an ihr zu messen. Das bedeutet aber nicht, daß solche Offenbarungen ohne Bedeutung fürs Ganze der Kirche wären. Lourdes und Fatima zeigen das Gegenteil. Sie sind letztlich nur Erinnerung an die biblische Offenbarung, aber gerade deshalb wichtig.
Es ist ein Faktum der Kirchengeschichte, daß es ohne gegenseitige Verwundung nicht geht... Wie würden Sie dieses Dilemma bewerten?
RATZINGER:
Es war immer wieder so, daß der prophetische Anstoß nicht ohne gegenseitige Leidenserfahrung gehen kann. Der Prophet ist in einer spezifischen Weise in die Leidensnachfolge berufen: Die Bereitschaft zu leiden, in die Kreuzesgemeinschaft mit Christus einzutreten, ist sein eigentlicher Prüfstein. Er versucht nicht, sich selbst durchzusetzen. Seine Botschaft wird im Kreuz verifiziert und fruchtbar.
Man könnte ja beinahe darüber frustriert sein, daß die meisten prophetischen Gestalten der Kirche von der Zeit, in der sie lebten, verworfen wurden. Es geht fast nie ohne kritische oder gar abweisende Stellungnahme von Seiten der Kirche. Dies sieht man bei den meisten der christlichen Propheten und Prophetinnen...
RATZINGER:
Ja, Ignatius von Loyola muß in das Gefängnis, das gleiche passiert mit Johannes vom Kreuz, und Birgitta von Schweden wird beinahe auf dem Konzil von Basel verurteilt. Übrigens ist es eine Erbschaft der Glaubenskongregation, daß wir da, wo mystische Ansprüche auftreten, zunächst sehr reserviert sind. Dies ist auch durchaus berechtigt: Es gibt sehr viel falsche Mystik, viel Pathologisches. Insofern muß da schon eine sehr kritische Sonde angelegt werden, damit man nicht einfach in das Sensationelle, in das Abenteuerliche oder in das Abergläubische verfällt. Der Mystiker erweist sich im Leid, im Gehorsam und im Durchtragen, und so bewährt sich dann seine Stimme. Umgekehrt bleibt da für die Kirche eine Ermahnung, man sollte ihr nicht nachsagen können: Ihr habt die Propheten umgebracht 21.
Die letzte Frage ist vielleicht unangenehm. Sie bezieht sich auf eine prophetische Gestalt der Gegenwart, nämlich die griechisch-orthodoxe Vassula Rydén. Sie wird von vielen Gläubigen, auch von vielen Theologen, Priestern und Bischöfen der katholischen Kirche, als Botin Christi angesehen. Ihre Botschaften, die seit 1991 in 34 Sprachen übersetzt wurden, sind weit verbreitet. Die Glaubenskongregation hat sich ihr gegenüber jedoch negativ geäußert. Die "Notifikation" von 1995, die neben positiven Aspekten in ihren Schriften auch von Unklarheiten spricht, ist von einigen Kommentatoren so ausgelegt worden, als handle es sich um eine Verurteilung. Ist das wahr?
RATZINGER:
Da rühren Sie ein schwieriges Thema an. Nein, die "Notifikation" ist ein Warnschild, keine Verurteilung. Eine Person könnte man ohne Prozeß und Anhören gar nicht verurteilen, rein prozedural betrachtet. Es wird gesagt: Vieles ist ungeklärt. Es sind fragwürdige apokalyptische Elemente enthalten und ungeklärte ekklesiologische Aspekte. Es ist viel Gutes dabei, aber Spreu und Weizen sind vermengt. Deshalb haben wir die katholischen Christen ermahnt, das Ganze mit Vorsicht zu betrachten und es am Maß des beständigen Glaubens der Kirche zu messen.
Es ist also doch noch ein Klärungsprozeß im Gang?
RATZINGER:
Ja, und während dieses Klärungsprozesses sollten die Gläubigen vorsichtig bleiben und den Geist der Unterscheidung wachhalten. Zweifellos ist eine Entwicklung in den Schriften festzustellen, die noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. Man darf auch nicht vergessen, daß die Wortwerdung und Bildwerdung der inneren Berührung mit Gott, auch im Fall echter Mystik, immer auf die Möglichkeiten der menschlichen Seele angewiesen ist und so auch durch deren Begrenzungen mitgeformt wird. Unbedingtes Vertrauen setzen wir dabei nur auf das eigentliche Offenbarungswort, das uns im Glauben der Kirche begegnet.
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Fussnoten
13 Apg 4, 32
14 Vgl. Mt 10, 8-10
15 Vgl. Mt 11, 13
16 Vgl. Mt 11,11-15
17 Vgl. Joh 1,26ff.
18 Vgl. 1 Thess 5,19-20
19 " ...ja, kann man (mit einer kleinen Übertreibung vielleicht) sagen, daß die Geschichte der Theologie der Mystik eine Geschichte der theoretischen Abwertung des Prophetischen zugunsten einer Aufwertung der unprophetischen 'reinen' eingegossenen Beschauung ist" (Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg 1958, Seite 21).
20 "In einer gewissen Hinsicht, so könnte man sagen, entspricht die Zweieinheit von Gott und Zeichen im Visionären, die vom Zeichen her einen 'geschichtlichen' Charakter erhält, mehr dem Grundcharakter des Christentums als eine bloß ‚bild-lose' Art, bei der das alte Problem immer wieder aufbricht, ob solche Frömmigkeit der reinen Geisttranszendenz eigentlich christlich sei" (Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg 1958, Seite 15.
21 Vgl. Lk 13, 34 und Mt 23, 37-39
DIDASCALIE
Kardinal Joseph Ratzinger auf Wallfahrt nach Jerusalem.
Details vom Tor der Jungfrau, Parma Baptistry, der Arbeit von Benedetto Antelami, 13. Jahrhundert. Der Lunette-Bogen stellt Propheten dar, die goldene Platten halten, die Abbildungen der Apostel enthalten. Hier der Prophet Ezra und der Apostel Bartholomaeus
Lunette. Im zentralen Teil von linker Seite aus, die Anbetung der Magier, die Madonna mit dem Kind und Josephs Traum. An den Extremen des Architrave vom Tor der Jungfrau bringt eine Inschrift zum Vorschein, wann die Arbeit desTaufbeckens begann: 1196.
Die Propheten Jesaja und Jeremias und die Apostel Peter und Paul
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